Arbeit entsprechend der Stärken und Talente

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Gelebte Inklusion

Der gut zweistündige Rundgang durchs Haus ist fast beendet, Astrid Faber will sich gerade verabschieden, da kommt ein junger Mann im Foyer der Einrichtung auf sie zu, umarmt die Leiterin der Diakonie Doppelpunkt in Mühlhausen. „Sie machen das so gut. Ich fühle mich wohl hier“, sagt der Mann. „Danke.“ Astrid Faber lacht kurz auf, wehrt das Kompliment halbherzig ab. „Er ist unser größter Charmeur, hat immer ein nettes Wort parat für alle hier.“ Sie löst sich aus der Umarmung, bittet, dass sie sich noch kurz um ihre Gäste kümmern könne. Die Ansage ist klar, aber freundlich. Der junge Mann – er ist einer von rund 600 Klienten in der Einrichtung. So nennt die Diakonie die Arbeitnehmer in einer der größten Werkstätten für behinderte Menschen im Unstrut-Hainich-Kreis.

„Im Grunde genommen ist es ja nicht nur eine einzelne Einrichtung“, sagt Astrid Faber. „Wir haben eine Hauptwerkstatt mit zehn Zweig- und Nebenstellen.“ Und noch viel mehr berufliche Möglichkeiten für die teils geistig, teils körperlich und teils auch mehrfach behinderten Arbeitnehmer.

In der Textilwerkstatt etwa wird gerade eine größere Menge an Kissen genäht. In der benachbarten Holzwerkstatt arbeiten einige Mitarbeiter an Musterkoffern für einen Kunststoffhersteller. Auch können Unternehmen ihre Akten durch eine Abteilung der Werkstätten vernichten lassen. Daneben gibt es in Stadt und Landkreis verstreut eine eigene Fleischerei, einen Gastronomiebetrieb oder eine Gartenbaufirma. „Wir sind also in der Lage, den Menschen mit Handicap eine Vielzahl von unterschiedlichsten Tätigkeiten anzubieten, jeweils entsprechend der Stärken und Talente, die sie haben“, sagt Frau Faber.

Und das kann durchaus anspruchsvoll sein. In der benachbarten Metallwerkstatt etwa bedienen einige junge Männer hochmoderne CNC-Fräsen und stellen Teile für die Automobilindustrie her. Weder Name des Unternehmens noch die genaue Teile-Bezeichnung dürfen genannt werden. Noch ein Raum weiter ist die Industrie-Produktion nicht ganz so sensibel. Die zwölf Mitarbeiter kleben Dichtungen in Rücklichter für Ford ein. Hier arbeitet auch Claudia Köthe. „Mir gefällt es hier sehr gut. Die Arbeit ist abwechslungsreich. Wir können uns ja auch aussuchen, wo wir arbeiten wollen.“ Frau Köthe ist seit 21 Jahren Klientin der Behindertenwerkstatt. Sie lebt ein weitgehend selbstständiges Leben außerhalb der Werkstätten, berichtet sie stolz. Auf Arbeit sei ihr vor allem die Atmosphäre wichtig. „Die Kollegen sind nett hier. Wir feiern Frühlingsfeste, Fasching gemeinsam. Zu Geburtstagen geben wir eine Runde aus. Das finde ich schön.“ Geschäftig ist die Atmosphäre ein paar Schritte den Flur hinunter in der Holzwerkstatt. Zwei große Räume öffnen sich dem Besucher hinter einer schweren Stahltür. Es riecht nach Sägespänen und Lacken. Es wird gehämmert und gebohrt. Ein Mann ölt einen schweren Holztisch ein, während Diakonie-Mitarbeiter Jan Osterland die große Laserschneidmaschine kontrolliert. Herr Osterland gehört zu den rund 400 Angestellten der Diakonie Doppelpunkt. Er kam als junger Geselle im Jahr 2000 zur Einrichtung. Bevor er seinen Arbeitsvertrag unterschieb, hatte er in der Kantine immer mal zu Mittag gegessen. „Irgendwann kam dann das Angebot. Ich habe es nie bereut“, sagt er. Auch wenn die Arbeit mit den bis zu zwölf behinderten Arbeitnehmern immer anders als ursprünglich gelernt und manchmal anstrengend sei. „Aber sie ist stets erfüllend“, sagt Jan Osterland. Für Astrid Faber ist daher die Debatte um die Daseinsberechtigung von Behindertenwerkstätten, wie sie von einigen Verbänden selbst vorangetrieben wird, unverständlich. So fordert die „LIGA Selbstvertretung Thüringen e.V.“ beispielsweise „Angebote außerhalb stationärer Einrichtungen und die Entwicklung einer Strategie zum Abbau aussondernder Einrichtungen“. Inklusion – so der Gedanke dahinter – erfordere eine betreute Beschäftigung der Menschen mit Handicaps in den Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Für die Diakonie ist das jedoch der falsche Weg. „Wir gehören in den neuen Ländern zu den ersten, die Inklusionsfirmen eröffnet haben. Und wo es passt, ist ein Übertritt in den allgemeinen Arbeitsmarkt wünschenswert und wird auch gemacht.“ Das Reinigungsgewerbe sei eine beispielhafte Branche hierfür. „Aber man muss auch wissen, dass etwa Menschen mit geistiger Behinderung Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben und daher viele Tätigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt gar nicht wahrnehmen können.“ Insofern stellen aus Sicht der Diakonie Behindertenwerkstätten auch in Zukunft einen wichtigen Baustein dar, Menschen mit Handicaps – wenn irgend möglich – ein ausgefülltes Berufsleben zu vermitteln, ohne sie zu überfordern.