Mohring trifft: Prof. Dr. Philipp Slusallek, wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz

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„Was KI mal können wird, kennen wir vielleicht zu fünf Prozent.“

Professor Slusallek, Sie sind Mitbegründer des europäischen KI-Netzwerkes CLAIRE, in dem sich Einrichtungen und Wissenschaftler organisieren, die zur Künstlichen Intelligenz forschen. Die mehr als 3000 Mitglieder wissen, um was es geht. Viele Bürger nicht.

Slusallek: Künstliche Intelligenz – KI – ist nichts ganz und gar Neues, denn die automatisierte Verarbeitung immer größerer Datenmengen hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Das bekommt jedoch eine neue Qualität: KI-Systeme können ihre Umgebung wahrnehmen, die Daten analysieren und auf dieser Basis Probleme lösen. Es sind lernende Systeme, die durch Wiederholung gleichsam trainiert werden. Das populärste, aber bei weitem nicht einzige Beispiel ist das autonome Fahren. Unser Ziel ist es, menschliches Denken und Handeln zu verbessern, jedoch nicht zu ersetzen. Es entsteht ein riesiger Werkzeugkasten, mit dem wir Probleme lösen können. Was KI mal können wird, kennen wir vielleicht zu fünf Prozent.

Herr Mohring, die Vorsitzenden der Unionsfraktionen in den deutschen Parlamenten haben KI Anfang Juni zu einem Hauptthema ihrer Jahreskonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Weimar erhoben und ein Papier dazu veröffentlicht. Was hat das mit Thüringen zu tun?

Mohring: Auf diesem Feld entscheidet sich die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen für die Zukunft. Die Weltmacht China investiert Milliarden in den Bereich. Internetkonzerne wie etwa Google, Facebook oder Amazon sowieso. Die sitzen jedoch bekanntermaßen in den USA. Für ein Land wie Thüringen ist entscheidend, dass das Thema auch beim Mittelstand ankommt. Prozesse, die sich automatisieren lassen, bringen echte Kostenvorteile.

Sieht fast so aus, als ob andere das Spiel spielen. Wo stehen wir in der Forschung? Wo liegen die Probleme in der Praxis?

Slusallek: Zuerst die gute Nachricht: Der Zug ist noch nicht abgefahren. Forschung und Ausbildung sind exzellent, da sind wir in Deutschland ganz vorne mit dabei. Dann zwei Einschränkungen: Viel zu viele der guten Köpfe gehen weg, weil die Arbeitsbedingungen nicht passen. Und wir bekommen es nicht hin, dass deutsche Forschungsergebnisse auch in Deutschland aufgegriffen werden.

Mohring: Deshalb hat sich die Fraktionsvorsitzendenkonferenz auch dafür ausgesprochen, dass wir die Bezahlung und die Arbeitsstrukturen auch einmal international vergleichen und etwa Fondslösungen gefunden werden, um Experten angemessen zu entlohnen. Es kann nicht sein, dass die „KI made in Germany“ an der deutschen Besoldungsordnung scheitert.

Slusallek: Die Bezahlung ist die eine Seite, die andere Seite sind die spannenden wissenschaftlichen Herausforderungen. Ein Beispiel aus der Physik ist die weltweit größte Forschungseinrichtung für die Teilchenphysik, bekannt unter der Abkürzung CERN. Sitz ist nicht das Silicon Valley, sondern die Schweiz. Ein Gemeinschaftswerk von 23 europäischen Staaten, das mehr als 14 000 Gastwissenschaftler aus aller Welt nutzen. Etwas Vergleichbares brauchen wir für die KI in Europa – eine Art „CERN für KI“. Daran arbeitet das erwähnte Netzwerk CLAIRE.

Der zweite von Ihnen angesprochene Punkt war die Beobachtung, dass wir in der Forschung zwar in der ersten Liga spielen, es aber an der Umsetzung hapert. Was tun?

Slusallek: Forschung und Wirtschaft müssen stärker aufeinander zugehen. Das heißt, vor allem die Unternehmen sollten enger in die Forschung eingebunden werden und sich mehr zutrauen. Das ist auch eine kulturelle Frage. Die Deutschen und Europäer sind zögerlicher, frühzeitig ins Risiko zu gehen, selbst auf die Gefahr hin, dass nicht alle Früchte reifen. Wenn man wartet, bis alle anderen es auch schon tun, ist man nur Mitläufer unter „ferner liefen“.

Mohring: Die Ende 2018 vorgestellte KI-Initiative der Bundesregierung setzt an diesem Punkt an. Ein Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0 und KI-Trainer sollen dazu beitragen, dass die Ergebnisse der KI-Forschung auch im Mittelstand ankommen und die Forschung genauer hinschaut, was die Unternehmen brauchen. Aber es stimmt: Dies ist ein zähes Geschäft, und das unternehmerische Risiko wird immer eines bleiben. Durch steuerliche Anreize, Fördermittel und den leichteren Zugang zu Wagniskapital lässt es sich aber abmildern. All das haben die Unions-Fraktionsvorsitzenden der Bundesregierung auf den Pflichtenzettel geschrieben.

Lassen Sie uns noch einmal bei dieser milliardenschweren KI-Strategie des Bundes bleiben. Was hat Thüringen davon?

Mohring: Wir sollten diese Initiative als Chance begreifen und eine angemessene Berücksichtigung einfordern. Mit der KI besteht aber die Möglichkeit, bei der Wirtschaft der Zukunft an der Spitze mit dabei zu sein. Deshalb setze ich klar darauf, dass Thüringen bei den in Aussicht gestellten 100 neuen Professuren und den zwölf KI-Zentren berücksichtigt wird. Mit den Instituten für Datenwissenschaften in Jena, an der Bauhaus-Universität Weimar und an der TU Ilmenau gibt es hervorragende Anknüpfungspunkte, die wir nutzen können.

Slusallek: Diese KI-Zentren sind ein Baustein, der gut zu dem passt, was wir mit CLAIRE erreichen wollen. Solche Zentren für Exzellenz soll es in ganz Europa geben, und wir wollen sie enger zusammenbringen, um den USA und China gemeinsam etwas entgegenzusetzen. Dazu gehört z.B. auch die Etablierung eines gemeinsamen Markenzeichens für europäische KI, um die vielen hervorragenden KI-Ergebnisse aus Europa auch gemeinsam sichtbar zu machen.

Ist die Politik mit der KI-Strategie der Bundesregierung und dem Beschluss der Fraktionsvorsitzendenkonferenz auf dem richtigen Weg?

Slusallek: Das sind entscheidende Schritte hin zu einer gemeinsamen KI-Strategie von Bund und Ländern. Ich sehe darin den Willen, gemeinsam die entscheidenden Punkte anzugehen, wie die Arbeitsbedingungen für Spitzenkräfte oder eine engere Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft. Am Ende geht es jedoch nur europäisch. Deutschland sollte zusammen mit Frankreich und anderen KI-starken Ländern schnell und energisch vorangehen. Übrigens auch, um ein zentrales Versprechen im Beschluss der Fraktionsvorsitzenden einzulösen: KI muss dem Menschen dienen. Das ist außerhalb Europas keineswegs selbstverständlich. Hier sind wir mit den ethischen Leitlinien der EU-Kommission schon wichtige Schritte gegangen, die es jetzt umzusetzen gilt.

Ein wichtiger Punkt, denn wir müssen auch über die Ängste reden. Die betreffen zum einen die Horrorvorstellungen, dass die KI-Systeme sich gleichsam verselbständigen und anfangen, die Menschen zu kontrollieren und zu beherrschen…

Slusallek: Man sollte Science-Fiction nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wir sind meilenweit davon entfernt, KI-Systeme zu entwickeln, die ähnlich wie Menschen lernen oder sich gar selbständig weiterentwickeln können. Für ganz schmale Bereiche, wie etwa Schach oder Go, sind KI-Systeme heute schon uneinholbar gut. Doch diesen Systemen fehlen zum Beispiel Dinge wie emotionale Intelligenz, das komplexe kulturelle und gesellschaftliche Wissen. Menschen und KI-Systeme ergänzen einander, können sich aber nicht ersetzen. Gleichzeitig müssen wir aber diese Diskussion ernst nehmen und führen, denn solche Szenarien sind nicht prinzipiell ausgeschlossen. Technisch geht es darum, wie wir sicherstellen können, dass KI-Systeme sich unter allen Umständen in unserem Sinne verhalten. Was dieser Sinn ist, müssen wir aber als Gesellschaft gemeinsam entscheiden.

Mohring: Eine Debatte darüber, wozu KI eingesetzt werden soll und wozu nicht, werden wir führen müssen. Um es an Beispielen zu verdeutlichen: KI verbessert etwa die medizinische Diagnostik ganz erheblich. Es wäre sträflich, darauf zu verzichten. Wenn aber beispielsweise Land oder Kommunen auf Basis umfangreicher Datenmengen soziale Risikoprofile für einzelne Personen oder Familien erstellen würden, wäre das ethisch und rechtlich hochproblematisch. Solche Fragen dürfen wir nicht dem Selbstlauf überlassen.

Mindestens ebenso groß sind die Befürchtungen, dass die KI Arbeitskräfte überflüssig werden lässt…

Mohring: Jeder Besuch in einem beliebigen Freilichtmuseum zeigt uns jede Menge Berufe, die es nicht mehr gibt oder die heute von viel weniger Menschen unter ganz anderen Bedingungen ausgeübt werden. Man kann den Wandel nicht aufhalten, doch er lässt sich gestalten. Die Grundlagen für digitale Kompetenz müssen schon in der Schule gelegt werden. Und dass Lernen lebenslanges Lernen heißt, wissen wir nicht erst, seit über KI geredet wird. Unsere politische Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Fortbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten vorhanden sind.

Slusallek: Der Wandel der Arbeitsmärkte wird sich nicht von heute auf morgen vollziehen. Und dann: Kein KI-System kann sich heute das Allgemeinwissen aneignen, das unser menschliches Leben ausmacht. Ein Beispiel aus der Justiz: Mit KI kann sich ein Richter sicherlich schneller alle entscheidungsrelevanten Paragraphen und Urteile zusammentragen und auswerten lassen. Die rechtliche Würdigung des konkreten Falles wird er aber noch immer selbst vornehmen müssen. Es geht voraussichtlich schneller, aber wird nicht grundsätzlich anders. Spannender ist die Frage, welche neuen Arbeitsfelder sich damit auftun und welche neuen Jobs daraus entstehen. Wir Menschen waren schon immer sehr gut darin, neue, sinnvolle und wertvolle Tätigkeiten für uns zu finden.