Pflege- und Alteneinrichtungen im Lockdown

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„Die psychische Belastung der Patienten in den Heimen ist riesig“

Es hat nicht viel gefehlt, und Rainer R.* hätte wieder mit dem Trinken angefangen. Von einem Tag auf den Anderen durfte er seinen Arbeitsplatz in den Ilmenauer Werkstätten nicht mehr betreten. Der Alkoholiker, der seit den 90-er Jahren trocken lebt, wurde per Allgemeinverfügung behördlicherseits zum Risikopatienten erklärt. „Das war eine prekäre Situation für mich. Denn ohne Arbeit, ohne Kollegen und soziale Kontakte fehlte mir plötzlich die Struktur im Tagesablauf.“ Gerade die Vereinsamung machte dem Mittfünfziger zu schaffen. Denn getrunken habe er damals schon „immer, wenn ich allein war.“

Sechs Monate nach dem dramatischen Lockdown zum Beginn der Corona-Pandemie sind die Folgen in Behinderten-, Pflege- und Alteneinrichtungen noch lange nicht alle behoben. „Wir haben ab Juni zwar die meisten Mitarbeiter wieder in unsere Werkstätten zurückholen können“, sagt Thomas Mohr, Leiter begleitende Dienste der Ilmenauer Werkstätten. „Aber bei einigen war deutlich zu erkennen, dass sie vieles, was in der beschäftigungslosen Zeit nicht mehr trainiert werden konnte, bereits verlernt hatten.“ Fortschritte von Jahren waren und sind bis heute noch gefährdet. Und so wirft auch die Leiterin des Lebenshilfewerks Ilmenau/ Rudolstadt e.V. in Ilmenaus Norden, Dr. Margret Biste, die Frage auf, ob der strikte Fokus auf den Gesundheitsschutz nicht zu Lasten der psychischen Gesundheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gegangen ist. „Am Anfang war die Verunsicherung groß und die Vorsorge nachvollziehbar“, sagt sie. Am Ende aber habe sie sich manchmal gefragt, warum integrative Arbeitsangebote in Betrieben nachträglich in das Betretungsverbot einbezogen wurden. Zum Beispiel durfte ein Beschäftigter wegen Corona nicht weiter in der nahegelegenen Kfz-Werkstatt arbeiten, obwohl er sich nichts dringlicher gewünscht hatte.

Kaum ein Markt in der deutschen Wirtschaft ist so reglementiert wie die Gesundheitsbranche. Hier trifft die mehrere Bände dicke Bundessozialgesetzgebung auf die Interessen von Pflegediensten, Medizinischen Dienstleistern und Einrichtungsbetreibern, die gemeinsam sicherstellen sollen, dass die Schwächsten in unserer Gesellschaft die Hilfe bekommen, die ihnen zusteht – zu Preisen, die die Gesellschaft tragen kann und will. Corona hat die eingespielten Abläufe hier regelrecht über den Haufen geworfen. Wer etwa bezahlt die Arbeit in den Behindertenwerkstätten, wenn von den Behinderten keiner mehr auf Arbeit kommen darf? Wie etwa verkraftet ein Träger in der Kurzzeitpflege die nicht so seltenen Fälle, in denen für zwei Wochen vorbestellte Pflegeplätze kurzfristig abgesagt werden, weil die Familie des Pflegebedürftigen wegen Corona nun doch nicht in den Urlaub fährt? Oder weil Krankenhäuser kaum noch Patienten überweisen, da sie nur noch im eingeschränkten Betrieb arbeiten? Sascha Zwinscher von der Einrichtung im Ilmenauer Blumenviertel stand in diesem Frühjahr vor genau diesem Fall. „Wir haben Verträge mit den Pflegekassen, die eine Auslastung unserer Zimmer von wenigstens 90 Prozent vorsehen. Erst ab einer höheren Belegung der Betten machen wir überhaupt Gewinn.“ In normalen Zeiten ist das ein kalkulierbares wirtschaftliches Risiko, welches in Pandemiezeiten schnell zu einer existenzbedrohenden Herausforderung werden kann. Sein Haus hat diese Situation gemeistert. Anfang September ist das Haus ausgebucht. Der Pflegealltag unter Coronabedingungen lässt aber auch Zwinscher nachdenklich zurück. „Wir haben hier viele Demenzpatienten. Denen kann ich hundert Mal am Tag erklären, warum Sie in ihrem Zimmer bleiben sollen. Und genauso oft besuchen sie sich dann doch wieder gegenseitig.“ Eine Lösung für solche Probleme hat er noch nicht gefunden. Denn einsperren wolle und dürfe man ja niemanden. Auch er erkennt ohnehin, dass die psychische Belastung der Patienten riesig ist, wenn niemand mehr zu Besuch kommen darf und die Sozialkontakte auf das absolute Minimum reduziert werden müssen. Selbst wenn sie es mental noch verstehen.

Auch Rainer R. hofft, dass Kassen, Gesundheitsämter und Einrichtungen aus den Ereignissen des Frühjahrs gelernt haben. „Ich verstehe, dass das alles notwendig war. Aber wenn ich mir etwas wünschen darf, hoffe ich, dass beim nächsten Mal mehr auf die Einzelfälle eingegangen wird“, sagt er. Er weiß, manch ein Leidensgenosse hat in dieser Zeit wieder mit dem Trinken angefangen. Es sind Opfer, die in keiner Corona-Statistik gezählt werden.

Von Matthias Thüsing

*Name der Redaktion bekannt