Im Nahkampf mit der Schulpraxis

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„Die meisten wären an einer normalen Schule völlig verloren“

Eine modern eingerichtete Regelschule, tief im Osten Thüringens. „Du Fotze, Du hast mir gar nichts zu sagen. Ich hau Dich um.“ Ein Stuhl fliegt quer durchs Klassenzimmer, die Adressatin der rüden Beleidigung, eine erfahrene Lehrerin, schaut mindestens so erschrocken wie die meisten Mitschüler des jungen Pöblers. Der 14-jährige Marvin* muss jetzt in den sogenannten „Trainingsraum“ einrücken. Dort kümmert sich Robert Fuchs* um den Schüler, versucht ihn zu beruhigen, analysiert die Ursachen des Ausbruchs. Die sind in diesem Fall denkbar banal: Die Lehrerin hatte versucht, dem Jungen das Smartphone abzunehmen, weil dieser massiv den Unterricht gestört hatte. „Schüler wie Marvin sind in einem Förderzentrum deutlich besser aufgehoben. Dem Jungen wäre geholfen, genauso wie der Lehrerin und dem Rest der Klasse.“

Das sagt ausgerechnet Fuchs, der vom Inklusionsgedanken grundsätzlich überzeugt ist und seinen Job als schulbezogener Jugendsozialarbeiter eigentlich gerne macht. Doch der einzige Sozialpädagoge an der Schule sieht, wie die Kollegen sich quälen und die Eltern der anderen Kinder sich sorgen. An seiner Regelschule gibt es 15 solcher „Schüler mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung“, kurz ESE. Sie sind psychisch auffällig, belastet durch das sognannte Zappelphilipp-Syndrom, viele besitzen kein Nähe-Distanz-Gefühl oder neigen zur Gewalt. Wenn jetzt auch noch, wie die Landesregierung es plant, der Großteil der Förderschulen geschlossen und immer mehr Schüler mit besonderem Förderbedarf an den normalen Schulen unterrichtet werden sollen, kann Fuchs nur den Kopf schütteln: „Inklusion an sich ist ‘ne coole Sache. Aber das ist praxisfremd, das funktioniert so nicht. Die Leistungsniveaus sind einfach zu unterschiedlich. Am Ende wird man den normalen Schülern nicht mehr gerecht.“ Er habe manchmal den Eindruck, im Bildungsministerium säßen nur praxisferne Schreibtischtäter: „Denen fehlt jede Einsicht. Das ist völlig am Thema vorbei. Die Kollegen, die wirklich mit Inbrunst und Einsatz bei der Sache sind, die gehen daran kaputt.“ 

Szenenwechsel. Es ist ein sengend heißer Frühsommertag, selbst die Weida kann sich nur mühsam zu einem trägen Plätschern durchringen. Direkt an ihrem Ufer liegt der schwerst mehrfachbehinderte Marc* in einer Hängematte. Schulbegleiter Nico Ehrlich steht neben ihm und bringt eine Klangschale in Schwingung. Die Sonne bricht hier und da durch die Wipfel der Bäume, an deren Stämmen die Hängematte befestigt ist. Indem er die Matte vorsichtig hin und her bewegt, lässt Ehrlich Licht und Schatten einen kleinen Tanz auf Marcs Gesicht vollführen. Die angespannte Miene des nahezu blinden Jungen entspannt sich merklich. Es geht darum, Reize ausschöpfen, die vorhandenen Sinne Marcs zu fördern.

Schulleiter Andre Franke beobachtet die Szene am Rande des Gartens der „Schule an der Weida“ zufrieden. Die von der Lebenshilfe Greiz/Zeulenroda getragene „Förderschule zur individuellen Lebensbewältigung“ bietet ihren 66 entweder geistig oder körperlich und geistig behinderten Schülern das, was normale Schulen so nicht leisten können: eine echte Vorbereitung auf den Alltag.

Ein Fall wie Marc ist da eher die Ausnahme, die meisten Schüler haben sehr viel größere Chancen auf ein eigenständiges Leben. Doch auch bei ihnen muss Franke oft erst die überambitionierten Erwartungen der Eltern dämpfen. „Es werden hier nicht alle lesen, schreiben und rechnen lernen. Manche haben das Potenzial, dann fördern wir es. Bei anderen ist es schon ein Erfolg, wenn wir ihnen beibringen, sich selbst die Schuhe zu binden.“ Die allermeisten seiner Schüler, ist Franke überzeugt, „wären an einer normalen Schule völlig verloren. Die würden nur mitlaufen.“ Die entscheidende Frage bei der Inklusion sei für ihn immer: „Was bringt es dem Kind?“ Die Antwort gibt er gleich mit: „Nicht viel, wenn der Unterricht an ihm vorbeigeht.“

Franke hat gute Argumente für seine Einschätzung: In seiner Förderschule sind nie mehr als acht oder neun Schüler in einer Klasse. Mit jeweils einem Lehrer, mindestens einer Sonderpädagogischen Fachkraft und einem Schulbegleiter für körperlich behinderte Schüler stimmt auch der Betreuungsschlüssel. Unter den Pädagogen ist eine Ergo-Therapeutin, eine Logopädin wird in den Schulalltag integriert, es gibt einen Wickelraum, einen Fahrstuhl, eine Schülerküche, einen Schulgarten und kleine, familiäre Klassenräume. „Wir haben hier Möglichkeiten, die normale Schulen momentan nicht haben. Unseren Kindern ist nun mal mehr geholfen, wenn sie am Ende ihrer Schullaufbahn selbstständig einkaufen können“, sagt Franke.

Und dann folgt noch ein ans Bildungsministerium gerichteter Satz, der fast genauso schon in der Regelschule von Robert Fuchs gefallen ist: „Inklusion ist doch was Gutes. Das Problem ist nur, dass die sie falsch interpretiert haben.“

Von Felix Voigt

*Name von der Redaktion geändert