Zwischen zehn und zwölf kommt der Wolf

Ein Augenpaar blitzt auf in der tiefschwarzen Spätsommernacht.  Michael Meister zuckt kurz zusammen. Ganz sicher ist er nicht, und doch: Seit diesem Moment lässt ihn das Gefühl nicht mehr los, den Wolf zum ersten Mal gesehen zu haben. Gewissheit über das unheilvolle Wirken des sagenumwobenen Raubtiers hat der 52-jährige Schäfer in diesen Neumond-Nächten Ende August jedoch immer erst, wenn sich die Dunkelheit langsam zurückzieht und es hinter der Wachsenburg zu dämmern beginnt. Denn sobald das erste Licht auf den Truppenübungsplatz Ohrdruf fällt, entscheidet sich, ob es ein guter Tag für Michael Meister wird. Ein guter Tag wird es dann, wenn der Wolf nicht zugeschlagen hat.

In fast schon erbarmungsloser Regelmäßigkeit mischt sich morgens der Tau auf dem Magerrasen des südlich von Gotha gelegenen Geländes mit dem Blut verendeter Schafe und Ziegen. Aufgerissen, ausgeweidet, an- oder aufgefressen.

Wenn der Wolf zuschlägt, dann läuft das immer ähnlich. Der Räuber kreist so lange um die nervöse Herde, bis sich diese in Panik immer schneller dreht und irgendwann den stromführenden Zaun umreißt, der sie eigentlich auch schützen soll. „Das erste Tier, das er zu fassen bekommt, packt er an der Keule, schleudert es zu Boden und setzt dann den Kehlbiss. Manchmal beißt er die Halsschlager aber auch nur halb durch, bis seine Beute nur noch röchelt“, rekonstruiert Meister den Todeskampf seiner Schafe und Ziegen.

Bis auf die Knochen frisst der Wolf oft nur ein Schaf oder eine Ziege auf – die übrigen Riss-Opfer verletzt er entweder schwer oder frisst sie nur an. Dann stehen die Schäfer, die mit ihren Herden für die Landschaftspflege auf dem Truppenübungsplatz unverzichtbar sind, fassungslos vor ihren halbausgeweideten Tieren, aus deren Bauchraum Pansen, Gebärmutter oder Gedärme quellen. Viele gute Ratschläge und Vorwürfe bekommen die Schäfer deshalb dieser Tage zu hören.

Warum sie nicht, wie früher, zusätzlich zu ihren harmlosen Hütehunden auf die Dienste von echten Herdenschutzhunden setzen? Die Warnung, dass die teuren und äußerst aggressiven Herdenschutzhunde nicht nur Wölfe, sondern auch jeden Spaziergänger mit Hund als Gefahr für „ihre“ Schafe ansehen und deshalb in besiedelten Gebieten wenig praktikabel sind, verhallt meist ungehört. Warum sie nachts bequem in ihren Betten liegen, während sich der Wolf an ihren Herden gütlich tut? „So einfach ist es nicht“, sagt Michael Meister. Seit dem zweiten Riss, den er nur knapp verpasste, weiß er: „Zwischen zehn und zwölf kommt der Wolf.“ Also weicht er seinen rund 1200 Tieren nun gar nicht mehr von der Seite, wacht sechs volle Nächte am Stück. Doch tagsüber hüten und nachts Wache halten, das funktioniert auf Dauer nicht: „Irgendwann schläfst Du ein.“

Viele von Meisters Kollegen fordern jetzt den Abschuss der Ohrdrufer Wölfin – und nicht nur ihrer Nachkommenschaft. Zwar kommt mittlerweile selbst das Thüringer Umweltministerium nicht mehr an der Erkenntnis vorbei, dass zumindest die sechs Hybride, die das Raubtier mit einem Haushund gezeugt hat, nichts mehr mit der wohligen Wolfs-Romantik zu tun haben, die gerade dort gerne gepflegt wird, wo die Natur weit weg ist – in den Städten. Wolfs-Hund-Hybride gelten als besonders gefährlich, weil sie die Aggressivität des Wolfes und die fehlende Menschenscheu des Hundes in sich vereinen. Bereits zum Jahresende wird erwartet, dass die Jungtiere den Truppenübungsplatz verlassen und sich ihr eigenes Revier suchen. Der Abschuss der „Problem-Wölfin“ selbst steht jedoch nach wie vor nicht auf der Agenda von Ministerin Siegesmund – obwohl der Wolf mit etwa 18.000 Exemplaren allein in Europa schon lange nicht mehr zu den gefährdeten Tierarten gehört. Meisters Kollegen Alf Schmidt lässt die Haltung der Ministerin verzweifeln: „Die Wölfin paart sich wieder mit irgendeinem Straßenköter, und nächstes Jahr haben wir die selbe Scheiße.“ Siegesmund rät den Schäfern stattdessen weiterhin, täglich mehrere Stunden in den korrekten Aufbau eines 1,40 Meter hohen Schutzzauns zu investieren, obwohl die Ohrdrufer Wölfin längst bewiesen hat, dass sie auch diesen spielend überwindet. Wirtschaftlich gesehen noch schlimmer als die mittlerweile mehr als 80 von der Ohrdrufer Wölfin getöteten Schafe und Ziegen, für die das Land einen Ausgleich zahlt, sind jedoch die Folgekosten, auf denen die Schäfer sitzen bleiben. Die ständigen Angriffe setzen die Herde so unter Stress, dass nun im Januar, wenn die traumatisierten Muttertiere lammen sollen, die Geburtenrate einzubrechen droht. Dazu kommen die zahlreichen Risse von trächtigen Tieren – zuletzt erwischte es in Espenfeld ein Schaf, das vor der Geburt von Zwillingen stand. Am Ende entscheidend bleibt jedoch die Frage der Sicherheit. So haben Fachleute die oft gehörte Beschwichtigung, der scheue Wolf attackiere niemals den Menschen, mit Verweis auf jüngste Vorfälle in Griechenland und Israel längst als Wunschvorstellung entlarvt. Auch beim aktuellen Riss in Espenfeld war von der Menschenscheu der Wölfin und ihres Rudels wenig zu spüren – das nächste Wohnhaus stand nicht einmal 50 Meter entfernt.

Von Felix Voigt