Die Union muss die Diskursmacht zurückgewinnen
Die Bundestagswahl hat die politischen Gewichte in der deutschen Parteienlandschaft und den Parlamenten grundlegend verschoben. Die Stimmen für die AfD zeugen von einer tiefgreifenden Enttäuschung bis in die Mitte der Gesellschaft. Ob man die Wucht der Entwicklung nun übersehenen sozialen oder kulturellen Fragen zuschreibt, ist am Ende zweitrangig. Das Fremdeln mit dem oder den Fremden lässt sich durch Sozialpolitik möglicherweise dämpfen, aber offenkundig nicht beseitigen. Manches spricht dafür, dass wir mit dem derzeitigen Erstarken einer rechten Partei Zeugen einer Europäisierung der deutschen Parteienlandschaft werden, bei der die Migrations- und Flüchtlingspolitik der Jahre 2015/16 als Katalysator wirkte.
Deutschland kennt seit langem ein linkes Lager mit der SPD und den LINKEN. Wobei zur LINKEN anzumerken bleibt, dass mit ihr die alte kommunistische Staatspartei SED bei mehrfacher Häutung erfolgreich in das parlamentarische System integriert worden ist. Die Fürsprecher von Rot-Rot-Grün verstehen dieses Koalitionsmodell ausdrücklich als Versuch, diesem Lager politische Gestaltungsmacht zu verschaffen. CDU/CSU und FDP, zum Teil die Grünen, präsentieren sich dagegen seit Jahrzehnten als Parteien der politischen Mitte. Den Anspruch, rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Partei zuzulassen, hat die Union vernachlässigt. Die Abfuhr für die Gesprächsrunde, die danach im konservativen Berliner Kreis aufging, dokumentiert das am heftigsten.
Eine veränderte Parteienlandschaft führt notwendig zu veränderten Debattenlagen. Ein ÖVP-Politiker wie Sebastian Kurz etwa konnte und musste 2015/16 in einem durch die rechte FPÖ über Jahrzehnte mit geprägten politischen Feld anders agieren als Bundeskanzlerin Angela Merkel. In Deutschland hingegen erschien die „Willkommenskultur“ für einen historischen Moment geradezu alternativlos. Einwände wurden in die Tabuzonen verbannt. Das war aus heutiger Sicht Höhe- und Endpunkt einer längeren deutschen Diskursgeschichte, in der das linke Spektrum durchaus wirkungsvoll versucht hat, den Raum des Diskutierbaren zu bestimmen und damit nachhaltig zur Entfremdung von Bürgern und Politik beigetragen hat. Das Erste ist vorbei und unter dem Strich erfreulich.
An diesem Punkt ist in der Union Selbstkritik angebracht: Die CDU hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu oft von dieser Diskursmacht beeindrucken lassen. Sie hat entweder nicht den Ehrgeiz oder die Ausdauer gehabt oder auch nicht die Notwendigkeit gesehen, dem erdrückenden Übergewicht im weiteren Sinne linker Weltsicht samt der politischen Korrektheit etwas entgegenzusetzen. Solange die Welt wohlgeordnet schien, reichte das Selbstverständnis als pragmatischer Problemlöser im Wesentlichen ja auch hin. Die inhaltlichen Übernahmen von der linken Konkurrenz waren ein probates Mittel, sie kurzzuhalten.
Das ist nicht die alleinige, aber doch eine Ursache für die „Repräsentationslücken“, die nun die AfD gefüllt hat. Die Unionsparteien sind jetzt zwischen der sozialistischen LINKEN und der deutschnationalen AfD tatsächlich stärkste Kraft in einer neu austarierten Mitte. Rechts ist einstweilen nicht mehr nichts. Das sollte so nicht bleiben, ist aber eine Konstellation, die in den Landtagen der Freistaaten Sachsen und Thüringen bereits seit Herbst 2014 parlamentarische Realität ist. Für die Unionsparteien ist dies Chance und Ansporn, in der bürgerlichen Mitte ihre Eigenständigkeit als einzig verbliebene Volkspartei mit christlich-sozialen, liberalen und konservativen Wurzeln klarer auszuformulieren und offensiver zu vertreten.
Das ist so schwer nicht. Die Mehrheit der für CDU und CSU erreichbaren Bürger hat die selbstverständliche Erwartung, dass der Staat seinen Daseinszweck erfüllt: Freiheit, Sicherheit, Ordnung und Eigentum zu gewährleisten. Sie wissen, dass der Wohlfahrtsstaat nur mit Grenzen und klaren Zugangsregeln Zukunft hat. Sie wollen einen eisernen Bestand an Regeln und kulturellen Gepflogenheiten weder zur Disposition gestellt wissen noch beständig neu aushandeln müssen. Sie schätzen das Leistungs- wie das Solidaritätsprinzip der sozialen Marktwirtschaft. Sie wollen Heimat als Raum des Vertrauten, in dem man sich nicht erklären muss. Sie sind offen für die europäische Integration, aber nicht für ein Europa, das die europäischen Nationalstaaten überwinden soll. Sehen sie das gewährleistet, lassen sich Bürger von einer Partei wie der AfD zurückgewinnen, deren Programmatik von nationalistischer Borniertheit durchtränkt ist. Im Grunde wissen viele „Denkzettelwähler“, dass der Weg der AfD in die nationale Einsamkeit führt. Die Unionsparteien sollten sich deshalb weder auf einen Überbietungswettbewerb mit der AfD einlassen, noch sich an pseudoantifaschistischen Ritualen von links beteiligen. Klare Abgrenzung von radikalen Positionen links wie rechts und Debatten in der Sache reichen aus. Vertrauen wir auf die Stärke des besseren Arguments. Dann haben wir die Chance, das Vertrauen der Enttäuschten zurück zu gewinnen und verhindern, dass aus Enttäuschung Überzeugung wird.
Mike Mohring